Ruth Priese
Ruth Priese     Körper- und systemisch orientierte Begleitung von kleinen und grossen Menschen

                                                        AUSGEWÄHLTE EIGENE TEXTE


Frühe Bindung, Kulturentwicklung und Identität

(Ottmüller, U.  / Kurth, W. / Reiß, H.J. (Hg.): Psychohistorie und Globalisierung. Jahrbuch für Psychohistorische Forschung Band 9, Mattes Verlag Heidelberg, S. 163-177)

In Folgendem möchte ich versuchen, aus der Perspektive meiner derzeitigen therapeutischen Arbeit mit jungen Familien heraus zu beschreiben, welche Wirkungslinien ich sehe zwischen Weichen, die für die Menschheitsgeschichte bereits in vorschriftlicher Zeit gestellt wurden, und gegenwärtigen Praktiken, junge Eltern im Aufbau ihrer Beziehung zu ihren Babies (nicht) zu unterstützen.
       Ich werde dabei in fünf Schritten vorgehen, werde
1. kurz die biologischen und sozialen Gegebenheiten unseres Menschseins benennen,
2. etwas schreiben über die kulturell geprägte Missachtung von Bindung und Beziehung,
3. über die weit zurückliegenden Ursachen solcher Missachtung,
4. über Auswirkungen von Bindung auf die Identitätsbildung Jugendlicher und
5. über mögliche anstehende Aufgaben.  


1.  Beziehung und Bindung – Grundlegungen unseres Menschseins

Die wichtigsten Gegebenheiten menschlichen Seins sehe ich darin, dass wir lebende Materie sind und damit ihren Gesetzmäßigkeiten unterworfen: Schon Einzeller suchen, wenn es ihnen gut geht, Kontakt zu anderen. Beziehungssuche ist also offensichtlich eine Eigenschaft alles Lebendigen.
       Wir alle entstanden aus der körperlichen Beziehung zwischen unseren Eltern und konnten danach unsere Inkarnation während der Schwangerschaft unserer Mutter nur in der körperlichen Beziehung zu ihr verwirklichen. Wir wurden durch diese Beziehung entscheidend geprägt.
Unsere Entwicklung war für viele Jahre von wohlwollenden Anderen abhängig.
       Das alles bedeutet m. E.: wir sind unserem »Wesen« nach durch und auf Beziehung hin geschaffen. Beide Körper unserer Eltern gehören zu den zentralen Schöpfungsgrundlegungen unserer Existenz.
       Es scheint mir notwendig, diese banal wirkende Nennung der Basis unseres biologischen und sozialen menschlichen Lebens so explizit zu formulieren. Denn wir leiden m. E. noch immer an den Gewohnheiten eines patriarchalen Paradigmas in unserer kulturellen Tradition, diese Basis zu verwischen, aus unserem Bewusstsein zu vertreiben, zu beeinflussen und zu verändern – wohl oft ohne es zu merken. Wir schädigen damit zugleich die Grundlage zukünftigen Menschseins, die Bindungen und Beziehungen unserer Kinder zu ihren Müttern und Elternebenfalls in der Regel unbewusst.
       Erich Neumann, der prominenteste Schüler von C.G. Jung, beschrieb in seinem 1956 erschienenen Werk »Die grosse Mutter« diese Verkehrung der Gegebenheiten folgendermaßen: »Ausgehend vom ... Bewusstsein, mit dem sich das Männliche identifiziert, kommt es zur Ableugnung des genetischen Prinzips, das gerade das Grundprinzip der matriarchalen Welt ist: Es kommt somit, mythologisch gesprochen, zum Muttermord und zur patriarchalen Umwertung, in welcher der mit dem Vater identifizierte Sohn sich zum Ursprung macht, aus dem das Weibliche, wie Eva aus der Rippe Adams, geistiger und widernatürlicherweise zu entstehen habe«. Und Michel Foucault schreibt: »Die Machtverhältnise schreiben sich dem Körper ein«.
       Mir scheint, in vielen sogenannten traditionellen Kulturen ist demgegenüber der Respekt vor den Beziehungs-Gegebenheiten und -Abhängigkeiten unseres Menschseins und vor dem Anteil der Frauen beim Erhalt des Lebens im gesellschaftlichen Bewusstsein stärker präsent und wird von der Gemeinschaft entsprechend sorgfältiger gepflegt, als es bei uns im Abendland üblich ist.

      Ich gebrauche den Begriff »Bindung« hier im Sinne des Psychoanalytikers und »Vaters der Bindungsforschung« John Bowlby, der u.a. formulierte: »Bindung ist ein gefühlsgetragenes Band, das eine Person zu einer anderen knüpft und das beide über Raum und Zeit miteinander verbindet.«  Das diese Qualität von Bindung Charakterisierende ist das Gefühl von Vertrauen auf die Bindungsperson im Leben eines (kleinen) Kindes. Damit unterscheidet sich diese Art der Bindung von all den vielen Formen aus Angst geborener Abhängigkeit, die zuweilen auch mit dem Begriff Bindung beschrieben wird. Es scheint, als trage die jüngere Hirnforschung überwältigend dazu bei, die hinter Bowlbys Bindungsbegriff stehende Wirklichkeit als die uns konstituierende zu adeln: »Ein Kind muss diese Verschaltungen jedoch erst entwickeln. Es kann sie in seinem Frontalhirn nur dann ausbilden, festigen und bahnen, wenn ihm auch die Möglichkeit geboten wird, diese komplexen Verschaltungen erfolgreich zur Lösung seiner Probleme und zur Bewältigung neuer Anforderungen zu nutzen. Dazu braucht jedes Kind – je kleiner es ist, umso mehr – Reizschutz (in Form sicherer emotionaler Beziehungen) und Orientierungshilfen (...). Findet ein solches Kind auch später niemanden, der ihm hilft, dieses Defizit zu überwinden, wird es sich auch weiterhin nicht anders gegen Überlastung, Angst und Stress wehren können als durch sinnlose Hektik, sprunghafte Aufmerksamkeit und gelegentliche Wutausbrüche«, schreiben z. B. Gerald Hüther und Helmut Bonney. Joachim Bauer hat uns unsere Spiegelneuronen bewusst gemacht und damit unser Angewiesensein auf das Gegenüber anderer Menschen. Und Gerhard Roth definiert Emotionen – »das limbische System als zentrales Bewertungssystem des Gehirns«.
       Der Leiter des Gehirn-Körper-Zentrums am psychiatrischen Institut der Universität in Chicago, Steven W. Porges hat – das alles bestätigend – herausgefunden, dass wir nur im »Sicherheits«-Zustand unseres Nervensystems vertrauensvolle Bindungen aufbauen und festigen können. In allen Zuständen von Unsicherheitserleben, schalten wir bekanntlich auf »Flucht oder Kampf«. Und wenn die Situation noch bedrohlicher erscheint, stellen wir zum Schutz die Weichen auf Erstarren, Abschalten, Ausblenden, Nichtfühlen, Nichtwahrnehmen – wie andere Säugetiere auch. Unser Nervensystem entscheidet ständig entsprechend unserer aktuellen Umgebung und unseren gespeicherten individuellen Erfahrungen darüber, wie es der jeweiligen Situation gegenüber angemessen zu reagieren hat. Sicherheit in einer Beziehung ist also die Voraussetzung dafür, dass von Vertrauen getragene Bindung zwischen zwei Menschen wachsen kann. Es ist demzufolge sehr plausibel, dass z. B. ein Neugeborenes, welches gerade den schützenden Körper seiner Mutter verlassen hat, oder gar durch Gewalteinwirkung von dort herausgeholt wurde, einen je entsprechend extrem hohen Bedarf an Sicherheit hat, den es bei Folgen von Schreck und Erstarrung jedoch zunächst gar nicht spürt.
        Auf der Basis dieses Wissens begleite ich seit 10 Jahren – nach vielen systemischen und körperpsychotherapeutischen Fortbildungen – mit wachsender Freude junge Familien mit Babies, die besonders unruhig sind oder sehr viel weinen. Allein der in der Regel gebrauchte Ausdruck »schreien« für die stimmlichen Äußerungen der Kinder benennt die in unseren Gesellschaften noch verbreitete Einstellung gegenüber dem kindlichen Erleben oder auch einfach die Unwissenheit über die Sensibilität, Verletzlichkeit und Prägsamkeit unserer Kinder von der Empfängnis an. Angesichts der Ergebnisse der Zell- und Hirnforschung müssen wir annehmen, dass Erfahrungen in ihnen bereits vom Beginn ihres Lebens an auf der Körperebene gespeichert werden. Im Gedanken an die solcherweise eingeprägten Traumata dürfen wir uns zugleich damit trösten, dass solche Erinnerungsspeicher bei verständnisvoller Begleitung gelöscht werden können.
        Was ich dabei in immer wieder neu ergreifenden Beziehungsgeschichten zwischen jungen Eltern und ihren Babies erleben darf, ist das schnell wachsende befreiende Verstehen der Gebärden des Kindes, seiner Mimik, seiner Stimme, seines Wunsches, verstanden und gehört zu werden sowie seines Bedürfnisses nach Sicherheit. Der Eltern Bestreben ist fast immer sehr groß, ihrem Kind zu helfen, wenn es oft herzzerreißend oder klagend oder jämmerlich oder wütend oder vorwurfsvoll oder völlig überfordert oder noch anders weint. Die große Lernbereitschaft der Eltern wird in dieser auch für sie so prägsamen Lebensphase wunderbarerweise hormonell unterstützt. Und so lernen sie meist erstaunlich schnell,
- ihr Kind in seinen Erinnerungen an diese seine Schwangerschaft und Geburt zu verstehen,
- seinen Kummer oder seine Wut über Erlebtes im Körperkontakt liebevoll zu begleiten,
- eigene (fast immer Beziehungs-) Probleme anzusehen und zu benennen,
- sich auf Kraftquellen zu besinnen und solche zu erschließen,
- selbst dabei Hilfe von Außen zu suchen und anzunehmen,
- dem Kind glaubwürdig zu sagen, dass es nicht verantwortlich ist für Sorgen und Probleme der Eltern,
- gegebenenfalls eigene Schuldgefühle in Trauer oder Wut zu verwandeln, – und vieles mehr.

       Nicht alle Familien lassen sich auf einen solchen Weg ein. Aber wenn sie es tun und wenn die Familie sich dann von mir verabschiedet, manchmal schon nach einem einzigen Telefonat, manchmal nach einer, zwei, drei, zwölf, fünfzig – oder auch einhundertundfünfzig Sitzungen, dann darf ich erleben, wie der Kontakt zwischen Mutter/Vater und Kind liebe- und vertrauensvoller fließt als bei unserem Kennenlernen. Das Strahlen auf den Gesichtern miterleben zu dürfen, die Freude, die Entspannung, die Sicherheit und das Genießen-Können der Begegnungen miteinander, das sichtbar gewachsene Band zwischen ihnen! Das sind die schönsten Momente meines beruflichen Lebens, die auch ich in vollen Zügen genieße. Das verstehe ich unter »Bindungsförderung«. Einer meiner Lehrer in dieser Arbeit, der Psychologe und Wilhelm Reich-Schüler Thomas Harms, bezeichnet seine Arbeit als »Rückkehr zur Bindung«. Und die Körpertherapeutin Mechthild Deyringer hat uns ein wunderbar einfach, liebevoll, praxisnah und auch für die Entspannung der Eltern hilfreich geschriebenes und bebildertes Buch geschenkt, in welchem sie eine dem heutigen Stand der Forschung angemessene Form der Schmetterlingsbabymassage nach Wilhelm Reichs Tochter Eva Reich vermittelt: »Bindung durch Berührung«. Ich nenne diese Art der Arbeit seit Kurzem »die Kunst der Berührung«.


2.  Kulturelle Missachtung von Bindung und Beziehung


Leider wird die Bindung zwischen Eltern und Kindern jedoch in unserer Kultur in der Regel nicht gefördert, ja, man könnte fast sagen, sie wird oft zerstört. Das geschieht etwa im Medizinbetrieb, auf den werdende Eltern bei uns weitgehend angewiesen sind, wenn sie während Schwangerschaft, Geburt und der Zeit danach ihr Kind verantwortlich begleiten wollen. Die prägendste Zeit für das Entstehen einer gesunden Bindung zwischen Eltern und Kind ist in unseren Gesellschaften oft überschattet von Einflüssen, in deren Folge sowohl das Kind als auch die Mutter vorrangig als medizinische Objekte wahrgenommen und behandelt werden. Es wird den Frauen oft nicht als PartnerInnen und Schöpfungskraft begegnet. Die Folgen eigenen Tuns für die Entwicklung bzw. Störung der emotionalen Beziehung zwischen Mutter und Kind werden oft nicht gesehen und bedacht.
        Damit will ich die Wohltaten und Erfolge der Medizin etwa in der Geburtshilfe nicht schmälern. Ohne sie würden wohl heute noch immer viele Kinder und Mütter bei der Geburt sterben. Aber m. E. haben viele MedizinerInnen ihre einseitige Prägung durch die Naturwissenschaft noch nicht überwunden, einer Methode, die Wirklichkeit in beobachtbare Ausschnitte aufzuspalten, um sie besser zu verstehen. Sie verlieren deshalb die bio-psycho-soziale Ganzheit der Frauen immer noch oft aus dem Blick. Viele Ärztinnen und Ärzte bei uns sehen und behandeln noch immer den Körper isoliert von Seele und Geist eines Menschen.
Ich möchte diese unsere heutige kulturelle Situation erneut in den Rahmen von Erich Neumanns Horizont stellen. Er urteilt z. B., »dass die Gefährdung der heutigen Menschheit zu einem Teil gerade auf der einseitig patriarchalen Bewusstseinsentwicklung des männlichen Geistes beruht, welcher nicht mehr durch die ´matriarchale´ Welt der Psyche im Ausgleich gehalten wird.... Die abendländische Menschheit muss notwendigerweise zu einer Synthese gelangen, in welcher die – in ihrer Isolierung ebenfalls einseitige – weibliche Welt fruchtbar miteinbezogen wird. Erst dann kann die psychische Entwicklung der Ganzheit des Einzelmenschen möglich werden, die dringend nötig ist, wenn der abendländische Mensch psychisch den Gefahren gewachsen sein soll, die sein Dasein von innen und außen bedrohen. Die Entwicklung jedes Einzelmenschen zu einer psychischen Ganzheit, in der sein Bewusstsein schöpferisch mit den Inhalten des Unbewussten verbunden ist, ist das tiefenpsychologische Erziehungsideal der Zukunft. Erst diese Ganzwerdung des Einzelnen ermöglicht ein fruchtbares Lebendigsein der Gemeinschaft. Wenn in gewissem Sinne ein gesunder Körper die Basis für einen gesunden Geist und eine gesunde Psyche ist, ist noch mehr ein gesunder Einzelner die Basis für eine gesunde Gemeinschaft.«
        Diese schöpferische Verbindung von Bewusstem und Unbewusstem ist ohne »den männlichen Geist«, die ratio völlig undenkbar. Um nur eines von unendlich vielen Beispielen unseres alltäglichen Lebens zu nennen, zu dessen Gestaltung wir die ratio dringend brauchen: Ich bekomme die »blinden Flecken« im Bild von mir selbst und in der Einschätzung meiner Situation nur durch den aufmerksamen Geist eines oder einer Anderen – , niemals allein in mein Bewusstsein. Erinnerungen an erfahrene Traumen können nur mit Hilfe unseres Verstandes – in der verständnisvollen Begleitung durch einen anderen Menschen – in unser Bewusstsein integriert werden und können uns nur so dann nicht weiter quälen.
        Aber wir brauchen etwa in den Beziehungen zwischen medizinisch und psychologisch tätigen Menschen und Schwangeren sowie Gebärenden dringend eine Haltung nicht nur des Analysierens (die auch). Wir brauchen darüber hinaus eine Qualität der Beziehung, des Respekts vor der Intuition, Kompetenz und Kraft der Frauen, eine Haltung zurückhaltender Bereitschaft, zur Verfügung zu stehen und zuzufassen, wenn es Not tut, ansonsten »nur« den Kräften der Natur einen möglichst wohlwollenden und schützenden Raum zu bereiten, wie es Charlotte Schönfeldt in ihrem Beitrag in diesem Band so schön beschrieben hat. Das wäre der Wirklichkeit angemessen. Und in zahlreichen Angeboten geschieht es zunehmend so: in vielen Geburtskliniken, Geburtshäusern, durch Hebammen und Familienzentren, in welchen die Erkenntnisse von Frederic Leboyer, Michel Odent und vielen anderen umgesetzt werden. Aber es geschieht noch zu selten.
          Und es wirken dem entgegen – zunehmend? – die wachsenden technischen Möglichkeiten wie z. B. Ultraschall, CTG und Amnioskopie, durch welche werdende Eltern, besonders die Mütter genötigt werden, bei auffälligen Befunden über Leben und Tod ihres wachsenden Kindes zu entscheiden. Ferner steht dem entgegen die hierarchische Struktur unseres Gesundheitswesens, das Autoritätsgefälle zwischen Ärzten/»Fachleuten« einerseits und den Patienten als den angeblich Inkompetenten, in Wirklichkeit aber den Experten für sich selbst und das Kind, andererseits. Bei den belastenden, ethisch gesehen Herkules-Aufgaben, vor denen junge Eltern in solchen Situationen heute oft stehen, werden sie viel zu wenig emotional unterstützt und getragen. Eine Mutter berichtete mir z. B. davon, dass sie sich bei einem ärztlich geäußerten Verdacht, ihr werdendes Kind könnte einen Morbus-Langdon-Down haben, mit der extrem schweren Frage auseinandersetzen musste, ob sie dieses Kind austrage oder nicht. Das dann – nach langem Sorgen – Geborene schrie mit einer Ausdauer und Heftigkeit, dass wir uns dies nur aus seinem vorgeburtlichen Erleben heraus erklären konnten. Ich habe bei diesem Kind und bei manchen anderen miterlebt, wie die existentielle Qualität ihres Schreiens von solchen durchlebten Zuständen zeugte. Die in den Zellen verankerte Verunsicherung des Kindes durch eine ambivalente Haltung seiner Eltern zur Schwangerschaft (die Schaltung seines Nervenssystems auf Kampf, Flucht oder Erstarrung) sitzt in ihm tief und wirkt oft bis in das Erwachsenenalter hinein. Der Qualität ihres Weinens nach der Geburt zufolge wird die Situation von ihnen erfahren als eine zwischen Tod und Leben, zwischen (Willkommen-)Sein und (Unwillkommen) Nichtsein.
         Alle Studien über die Erlebnisfähigkeit der Ungeborenen bestätigen, dass sie sehr stark auf die seelischen Verarbeitungsweisen und Gefühle ihrer Mütter und indirekt über sie auch auf die des Vaters reagieren. Ärger etwa oder ein Empfinden von Unverstandensein der Schwangeren kann besser vom Baby ferngehalten werden, wenn die Mutter sich im Gespräch mit anderen davon befreien kann. Dann kann das Baby die eigenen Empfindungen besser unterscheiden von denjenigen der Mutter und muss sich nicht in allem mit ihr identifizieren. Eine Schwangere tauschte sich z. B. regelmäßig mit mir aus über ihre Besuche während dieser Zeit bei ihrem Gynäkologen und wir sprachen mit dem Ungeborenen – in dem Sinne, dass all das Mamas und nicht seine Probleme sind...
Heute fällt dieses vierte von sechs Kindern durch große Souveränität und sein heiteres Gemüt auf.
         Das seelische Ergehen des Kindes und seiner Eltern während einer Schwangerschaft wird zusätzlich oft auch durch die perverse Tatsache belastet, dass die Diagnose »Risikoschwangerschaft« und die deswegen den Eltern angebotenen Untersuchungen zum Teil unter Ausnutzung der medizinischen Unkenntnis und Abhängigkeit der Eltern angesetzt werden, um die ärztlichen Ängste vor den Folgen eigener Fehler zu bewältigen. Das Vertrauen der »Fachleute« in die »Natur« scheint vielerorts im Sog der genannten kulturellen Prägungen inzwischen so schwach geworden zu sein, dass sie immer weniger bereit sind, Risiken im Interesse der inneren Gewissheit und Sicherheit des Kindes und seiner Eltern hin und wieder auch allein zu tragen, wie es Marina Marcovic in ihrer Art der Versorgung von Frühchen auf so wunderbare Weise tat. Sie hatte als verantwortliche Kinderärztin den Mut, viele Frühchen ihrer Station nicht zu intubieren und damit weiter zu traumatisieren. Sie vertraute vielmehr auf die Selbstregulationskräfte der Winzlinge, ihren Stoffwechsel zu regulieren. Und fast alle erhohlten sich dann auch wirklich von allein auf dem nackten, geschützten Körper ihrer Mütter – also in der fortgesetzten körperlichen Beziehung.
      
Das ärztliche Ethos scheint oft so sehr durch das naturwissenschaftlich-reduktionistische Welt- und Menschenbild geprägt, dass auch die seelischen und hirnorganischen Schäden durch Ängste bei Eltern und Kind nicht gesehen und bedacht werden, obwohl sie übereinstimmend von den Hirnforschern dargelegt werden. Die Folgen für das fragile entstehende Vertrauen unserer Kinder sind gravierender als wir lange dachten.
        Hinzu kommt die materielle Versuchung für jede Gynäkologin, jeden Gynäkologen. Denn jede apparative Untersuchung bringt ihnen auch dann zusätzliches Geld, wenn sie eigentlich unnötig ist bzw. wenn mit den Eltern nicht ausführlich erörtert worden ist, ob es denn bei »positivem« Befund überhaupt Therapiemöglichkeiten gibt.
         Ich könnte entsprechend sorglose, ängstliche oder unachtsame Gewohnheiten »rund um die Geburt« noch immer in vielen Entbindungskliniken, von denen ich oft höre, beschreiben, mitsamt den destruktiven Folgen für die entstehende Bindung zwischen Eltern und Kind. Immer noch also wird in Folge unserer kulturellen Gewohnheiten unter den Tisch gefegt, dass wir aus Beziehungen heraus entstehen – und dass gewiss deshalb in uns ein tiefes Bedürfnis nach Bindung, Geborgenheit, Zugehörigkeit, Spiegelung, Verstanden- und Anerkanntwerden erst dann Ruhe zu geben scheint, wenn es erfüllt ist.
         Und so wird – horribile dictu – weiterhin pausenlos in sehr vielen Babies die Überzeugung etabliert: Mein Bedürfnis nach Kontakt und Gesehenwerden ist falsch. Und dann prägt das Bewusstsein, nicht richtig zu sein, Charaktere und Lebensziele, oft die unendliche Bemühung, doch noch – wenigstens von einem geliebten Menschen – anerkannt zu werden. Wenn auch das nicht gelingt, entstehen aus all dem Missverstanden – und Nichtgewürdigtwerden Wut, Hass und Gewalt – schließlich Depression, Selbstzerstörung oder die Zerstörung Anderer, wie wir wissen.
         Menschen mit entsprechender Geschichte ihres vorgeburtlichen Seins, zeigen auf vielfältige Weise in ihren alltäglichen Lebensgewohnheiten und Verhaltensweisen, die gleichsam durch eingegrabene Reaktionssmuster ihres Nervensystems gesteuert werden, bis lang in ihr Erwachsenenalter hinein, was sie in ihrer vorgeburtlichen Zeit, unter ihrer Geburt oder/und in ihrer frühen Kindheit erfahren hatten. Ich habe dies selbst in, dem prä-perinatalen Erleben gewidmeten workshops erkennen und ein wenig ändern lernen dürfen, Schritt um Schritt meiner eigenen Lebensgeschichte auf die Spur kommend. Ich vermute, dass sehr viele Menschen entsprechend belastet leben (müssen?).
        Wir existieren noch immer weitgehend im Rahmen von eingeübten kulturellen Gewohnheiten, u.a. auch im Namen der »reinen Wissenschaft«, der Übermächtigkeit  menschlicher »Natur« zu entkommen, bzw. sie aus einer Position vermeintlicher Überlegenheit heraus zu beherrschen und zu manipulieren. Diese anmaßende Haltung den Gegebenheiten gegenüber prägt noch weitgehend unsere abendländischen gesellschaftlichen Strukturen, Einrichtungen, Denk- und Wahrnehmungsweisen:
          Nicht Körper und Geist – , nicht Bipolarität, die Beziehung zwischen Mann und Frau, das sowohl als auch prägte unsere Denkstrukturen, nicht das selbstwirksame Pulsieren alles Lebendigen wie im Herz- und im Liquorrhythmus aller Säugetiere, im Wechsel von Ruhe und Bewegung, Passivität und Aktivität, Schlafen und Wachsein, Ein- und Ausatmen, im Wechsel von Tag und Nacht, Sommer und Winter, heiß und kalt, Innen und Außen, Nehmen und Geben, schwach und stark, jung und alt ... Vielmehr sind es immer noch häufig starre und linear-hierarchische Symbole des Entweder-Oder, Wertungen von »besser« und »schlechter«, »gut« und »böse«, die rivalisierende Sucht nach dem Höher, Besser, Schneller, Reicher, Länger, die Konzentration des Nachdenkens über das Menschsein auf das Individuum statt auf Beziehungen, als könnte eine menschliche Zelle ohne die anderen – , ein Organ ohne die anderen existieren und ein Einzelner das menschliche Leben weitergeben. Sicherlich nicht nur um der Kürze willen haben wir uns daran gewöhnt, z. B. zu sagen »der Mensch« statt: »Mann und Frau«. Die Wortpaare: Oben-Unten, Stark-Schwach, Geist-Körper, Geist-Materie etwa werden immer noch mit »besser« – »schlechter« oder gar »gut« – »böse« assoziiert, statt mit den zwei sich ergänzenden Polen des Größeren. Die im dazugehörigen Bild so überzeugende fernöstliche Symbolik von Ying und Yang ist der Komplementarität der Wirklichkeit näher, steht aber wohl zu sehr allein für das sich gegenseitig Ergänzende von Männlichem und Weiblichem. Könnte sie übertragen werden auf alle die anderen einander bedingenden, sich ablösenden und ergänzenden Kräfte des Seins?
         Es scheint mir, als räche sich »die Natur« für den beschriebenen Frevel an ihr – etwa durch die von Menschen gemachten Bedrohungen durch Atomwaffen, Terrorismus, Hungersnöte, Banken- und Wirtschaftskrisen, Klimawandel und Gentechnologie. Wolfgang Giegerich hat in seinen Büchern »Die Atombombe als seelische Wirklichkeit« und »Drachenkampf oder Initiation in das Atomzeitalter« einen der globalen Aspekte dieser bedrohlichen Entwicklung für mich überzeugend nachgezeichnet.
         Wir sind an einem Punkt der menschlichen Geschichte angekommen, an dem lange gegeneinander Ausgespieltes, etwa Denken und Fühlen zusammenkommen müssen, wenn wir zur Lösung der Probleme der Zukunft beitragen wollen. Denn die Gegebenheiten, die wir immer wieder neu vorfinden, erweisen sich trotz aller Versuche, sie zu verändern, gegenüber unserem Wollen, Denken und Tun als die stärkeren und größeren. »Extra nos«, formulierte Kant.
         Emmanuel Levinas  mit seiner Reflexion über das menschliche Antlitz hat – neben anderen – viele einseitige philosophische Denktraditionen für mich hoffnungsgebend in Frage gestellt.


3.  Zu den Ursachen der Missachtung


Ich möchte die Aufmerksamkeit der LeserInnen statt auf weitere Phänomene der gegenwärtigen Situation ein wenig in die Vergangenheit lenken und im Sinne von Erich Neumann weitgehend nicht bewusste Nachwirkungen von schon früh gefallenen Entscheidungen auf den gegenwärtigen Alltag von jungen Eltern und ihren kleinen Kindern in unserer Kultur ins Blickfeld rücken – weil ich mir wünsche, dass wir neben allem notwendigen sozialpsychologischen und sozialpolitischen Engagement zur Verbesserung der Voraussetzungen, in denen vertrauensvolle Bindungen in jungen Familien gefördert werden können, auch unsere Wahrnehmungs- und Denkgewohnheiten verändern und komplexere Leitbilder suchen und etablieren.  Als Beispiel dafür denke ich an Veränderungen der Denkfigur, wie sie oben im zuerst genannten Zitat von Erich Neumann benannt wurde und wie sie z. B. auch hinter dem biblischen Schöpfungsglauben steht. Immer noch wird im Abendland weitgehend im monotheistisch-patriarchalen Paradigma wahrgenommen, gedacht, erlebt und gehandelt: Elohim bzw. Jahwe-Elohim, die Gottesbezeichnungen in den beiden alttestamentlichen Überlieferungstraditionen in den beiden biblischen Schöpfungsgeschichten Gen. 1 und 2 (meistens übersetzt als »Gott« und »Gott der Herr«) stehen für einen männlichen Einzelnen, welcher die Menschen erschuf und alles, was ist.
        Entgegen dieser Vorstellung von der Erschaffung von Welt und Menschen durch einen einzigen männlichen Schöpfergott rückt bekanntlich eine überwältigend große Menge von frühen Bildwerken vorschriftlicher Zeit der Menschheitsgeschichte von unterschiedlichsten Orten der Erde einseitig die weiblichen Schöpferkräfte in den Vordergrund.
        Viele von diesen Bildern und Figuren erzählen auch von der großen Furcht vor verschlingenden, dem Tod verbundenen weiblichen Kräften. Das in vielen dieser Bildwerke sichtbare Entsetzen über sie ist für mich eine überzeugende Erklärung für den mit dem historischen Sieg des Patriarchats schließlich erfolgreich gewesenen (und oft subtil weiter andauernden) Kampf gegen die nur den Frauen gegebenen körperlichen Möglichkeiten.     
        Der Sieg des Patriarchats – statt einer Entwicklung hin zur Achtung von Bipolarität – ging zu Lasten der Kinder und damit in seinen Folgeerscheinungen schicksalsträchtig zu Lasten der Persönlichkeitsentwicklung der Menschen während einer langen Epoche der Geschichte.       
        Fast überall auf der Erde hat sich diese Veränderung von einer möglichen Zeit der Achtung vor den weiblichen Kräften hin zur Dominanz männlichen Denkens, Wahrnehmens und Tuns ähnlich vollzogen und in der Mythologie der Kulturen abgebildet. Das Alte Testament erzählt z. B. von dem Sieg des Jahweskultes über die Kulte der kanaanäischen Götter, vor allem die der Weibliches symbolisierenden Ascheren. Ein Mythos des Zweistromlandes berichtet von dem Sieg des Gottes Marduk über die Göttin Tiamat, die griechische Tradition von Zeus als dem nach zahlreichen Kämpfen u. a. mit Hera schließlich alleinmächtigen Göttervater. Und diese einseitige Sicht- und Interpretationsweise der Wirklichkeit ist weiterhin im wissenschaftlichen Diskurs zu finden, wenn nicht herrschend: In einer Darstellung z. B. der altbabylonischen Theologie durch den Vorderasienwissenschaftler Stefan Maul wird die »auf Marduk und  Babylon foccussierte Theologie.....«  ein »Angebot« genannt, »das einer faktischen Globalisierung Rechnung trägt«. 
Eric Hornung hat seine Darstellung der Ägyptischen Gottesvorstellungen »DER EINE UND DIE VIELEN« genannt. Auch diese Fomulierung entspricht der monotheistisch-patriarchalen Wahrnehmung und Deutung der Wirklichkeit.
       Bekanntlich wurde im Verlauf der abendländischen Religionsgeschichte dieser einzige männliche Gott mehr und mehr vergeistigt, als herrschender vorgestellt und als entgegengesetztes Prinzip zur als niedrig empfundenen, weiblich vorgestellten Materie gedacht (mater-Materie). Die Schöpferkraft der Körper wurde abgewertet und ihre Würde aus dem Bewusstsein der Menschen vertrieben. Das patriarchale Paradigma zur Interpretation dessen was ist, prägte so auch das Erleben der Frauen und Mädchen, sie seien weniger wert, als die Jungen und Männer. Das wirkt noch heute im schwachen Selbstbewusstsein vieler Mütter nach, etwa in ihrem Gehorsam dem medizinischen Personal gegenüber und in ihrem oft gestörten Verhältnis zu ihrem eigenen Körper, ihren Instinkten, Bedürfnissen und Gefühlen – auf Kosten ihrer Empfindungen zu den ihnen ausgelieferten Kindern: Mütter z. B. wagen oft nicht, ihrer Intuition zu trauen und das Kind auf den Arm zu nehmen, wenn es weint. Sie fürchten oft das strenge Gesicht der Mitmenschen oder ihrer eigenen Mütter, das ihnen befiehlt, ihr Kind doch nicht zu »verwöhnen«. So herrschen – vergesellschaftlicht – Normen bindungsfeindlicher Paradigmen nach.

In einer Reihe von Überlieferungen wird ein Weltzustand vor diesen Kämpfen der Geschlechter beschrieben, in dem Männliches und Weibliches ohne Dominanz des einen über das andere noch eine Einheit waren. Am Beginn der Bibel heißt es z. B. »der Geist Gottes schwebte über den Wassern«. Der altbabylonische Schöpfungsmythos, das Enuma elisch, spricht davon, dass der männliche Apsu, das süsse Wasser, und die weibliche Tiamat, das salzige Wasser des Meeres noch ungeschieden waren – Symbol für die Zeugungskraft. E. Hornung urteilt: »Für den Ägypter kommt die Welt aus dem Einen, weil das Nichtsein eins ist. Aber in seinem Werk differenziert der Schöpfer nicht nur die Welt, sondern auch sich selbst. Aus dem Einen geht die Dualität der »Zwei Dinge«, geht die Differenzierung der »Millionen« Schöpfungsgestalten hervor. Gott hat getrennt, Schöpfung ist Scheidung, und nur der Mensch wirft alles wieder durcheinander. Das Getrennte ist aufeinander angewiesen, aber es bleibt getrennt, solange es seiend ist.«
      Mir scheint, als könnten wir in der Suche nach zukunftsfähigen – dem Einen und dem Getrennten gerechtwerdenden – Leitbildern hier anknüpfen, ohne unser Differenziertsein als Mann oder Frau, unsere jeweilige Individualität und Andersartigkeit, zugleich als Teil des großen Einen aufzugeben. Könnten wir vielleicht z. B. statt des Buchtitels von Hornung – unserer Getrenntheit Rechnung tragend, – wenn auch holperig, aber der menschlichen Schöpfungsgegebenheit der zwei Geschlechter besser gerecht werdend – formulieren: Die Beiden und die Vielen? Viele Schöpfungsgeschichten indigener Völker erzählen ja von zwei zusammenwirkenden Kräften.
       In solchen Metaphern könnten sich Männer und Frauen wiederfinden und es müssten sich nicht länger etwa die Frauen der Christenheit im Marienkult – und die Männer im Christus-  und Gottesglauben wiederfinden.


4.  Bindung und Identität


Eine sichere, vertrauensvolle Bindung zu mindestens einer Bezugsperson ist die Grundlage für ein starkes Selbstbewusstsein, für Autonomie und Widerstandskraft gegenüber jeder Art von Rattenfängern, die von außen wirken. Die Bedürfnisse nach Zugehörigkeit und Anerkennung sind für einen sicher gebundenen Menschen gestaltbar und überfluten ihn nicht, wie es bei unsicher gebundenen Menschen oft der Fall ist. Diese harren deshalb oft in ungewollten, gewalttätigen Beziehungen aus, können sich von solchen nicht trennen, weil das Alleingelassensein in der frühen Kindheit so unerträglich war, dass sie es auf keinen Fall wiedererleben wollen. Nur ein haltendes und tragendes inneres Band zu mindestens einem verlässlichen und wohlwollenden anderen Menschen gibt dem Individuum die innere Sicherheit, die es braucht, um sein speziell menschliches »soziales Nervensystem« zu entfalten. Und eine vertrauensvolle, sichere Bindung ist die Voraussetzung dafür, sich in Freiheit auf andere Menschen einzulassen, Beziehungen wirklich zu gestalten und in schwierigen Situationen Hilfe annehmen zu können.
       Diejenigen Menschen, die in ihrer Embryonalzeit, in ihrem frühen Säuglingsalter und in ihrer Kindheit eine oder mehrere sichere Bindungen erleben konnten, sind in unserer kulturellen Situation die Privilegierten. Aber auch alle anderen, ursprünglich »unsicher Gebundenen« können – lebenslang – an ihrer inneren Freiheit arbeiten, um Bindungen aufzubauen, die weitgehend frei von Abhängigkeit sind. Dafür gibt es genug Beispiele. Natürlich ist das mühsamer, wenn wir schon älter sind.
        Für die Zeit der Identitätsfindung und Ablösung von den primären Bindungspersonen in der Pubertät ist das bekanntlich von entscheidender Bedeutung. Denn in ihr wird das gesamte Gehirn umstrukturiert, es gleiche einer riesigen Baustelle, so lehren uns die Hirnforscher. Das macht die vielen Gefährdungen und Brüche in diesem Alter verständlich: die extreme Wendung der jungen Menschen nach Innen, ihre Neigung zu Depressionen oder gar Suizidalität oder ihre extreme Wendung nach Außen in waghalsige Unternehmungen, provozierendes, opponierendes Extremverhalten, Selbstdarstellung, überstarkes soziales Engagement u.a. Nie wohl sonst im Leben ist die Suche nach der eigenen Identität in der schroffen Abgrenzung zur, ja oft radikalen Ablehnung der eigenen Herkunftsfamilie so stark wie in diesem Alter.
         Die gegenwärtige gesellschaftliche Situation mit dem wackeligen Arbeitsmarkt, finanziellen Unsicherheiten, medialer globaler Vernetzung, Überflutung mit Werbung, Musik, Mode, Informationen erschwert gegenüber früheren Zeiten die Selbstfindung der jungen Leute zusätzlich. In ihrem körperlichen Reifen werden sie unerbittlich und unaufhaltsam überschüttet mit dem Chaos, das aus ihrem Inneren kommt, den Veränderungen ihres Körpers, ihrer Gefühle, ihres Wertesystems – und zugleich mit den sich überstürzenden gesellschaftlichen Phänomenen.
         »Sicher gebundene« Jugendliche haben in dieser wabernden Flut von Einflüssen in ihrem emotionalen und Körpergedächtnis wenigstens eine Erinnerung daran, dass es Verlässlichkeit unter Menschen gibt. Die Verknüpfung ihrer Nervenbahnen hat zumindest eine emotionale Erinnerungsspur hinterlassen aus der Zeit der frühesten Prägungen in Bezug auf Beziehung und Bindung, die in dem neuen Chaos der Pubertät nicht unterging: Die Erinnerung daran, dass es so etwas wie gute, Freiheit lassende Beziehung und Bindung unter Menschen gibt.
         Und so können sie etwas leichter auswählen in der Fülle der Angebote, können sich selbst und anderen ein wenig leichter Grenzen setzen als diejenigen, die schon in ihrer frühen Kindheit viel Ambivalenz, widersprüchliches Verhalten der Erwachsenen, Abweisung, wenig Verlässlichkeit und Missbrauch erfahren haben. »Unsicher gebundene« junge Menschen kennen oft keinerlei Sicherheit. Und deshalb erwarten sie solche auch nirgends. Ihre meist unbewusste Sehnsucht danach wandelt sich bekanntlich in verschiedene Formen der Destruktion.


5.
  Aufgaben?

Die Ursachen bindungszerstörender Lebenspraktiken haben sich in unserer Kultur so etabliert, dass wir sie in der Regel nicht wahrnehmen. Ich habe angedeutet, dass sie, geschichtlich gesehen, zurückreichen bis in die Anfänge schriftlicher Zeugnisse der Menschheit. Können wir ihre negativen Wirkungen auf die gegenwärtigen Gewohnheiten, mit Kindern zu sein, stärker bewusst  machen? Können wir dem Leben gemäßere gesellschaftliche Strukturen und Umgangsformen in dem Maße etablieren, in dem es nötig ist?
          Es geht bei einem bindungsfreundlichen, »Psychokompetenz« und Identität fördernden Paradigmenwechsel in unserer Kultur um das Abschmelzen Jahrtausende alter Muster zuerst in uns selbst. Das kann in unsere Umgebung hineinwirken, wenn es gelingt. Es geht oft um ein Zulassen der Trauer über die Abhängigkeit unserer primären Persönlichkeitsqualitäten von der Unsicherheit der Bindung, in der wir in unseren frühesten Jahren gelebt haben.
         Ich wünsche mir, dass aus solcher Anerkennung, Trauer und damit neu gewonnener Freiheit heraus Kraft erwächst, sich einzusetzen dafür, dass einst allen Eltern und allen pädagogische Verantwortung Tragenden auch in medizinischen und psychologischen Berufen die moralische und materielle Unterstützung zuteil wird, die sie brauchen, um sich mit ihrer eigenen frühen Geschichte zu versöhnen. Auf diese Weise können sie, können wir mit den Menschen, denen wir begegnen achtungsvoll und ausreichend sorgsam im Kontakt sein. Es geht auch um eine entsprechende Umsteuerung materieller gesellschaftlicher Ressourcen – wahrhaftig politische Mammutaufgaben! »Das Schicksal einer Gesellschaft wird dadurch bestimmt, wie sie ihre Lehrer achtet«, sagte Karl Jaspers. Und ich möchte ergänzen: »... wie sie diejenigen Menschen achtet, die das Leben weitergeben, schützen und begleiten«.
          Es geht m. E. zuallererst um das Spüren und Zulassen unserer eigenen tiefen Beziehungsbedürfnisse. Nur so können wir auch die der Anderen spüren, Bindungen schützen und die dafür nötige politische Umverteilung der Ressourcen und entsprechende Symbole in der Öffentlichkeit beharrlich immer und immer wieder einfordern – inmitten der auf dieser Tagung so eindringlich beschriebenen globalen Gegenwinde.
         Solche Not-wendenden Veränderungen lassen sich überall, z. B. auch in dieser Psychohistorischen Gesellschaft vollbringen: vielleicht, indem zukünftig während der Tagungen mehr Zeit und Raum bleibt sowie Anleitung gegeben wird zum Austauschen in kleinen Gruppen darüber, was das Gehörte emotional in uns auslöst?
         Ich denke dabei an meine manchmal zur Trauer werdende, manchmal aber auch offene Wut über diese unsere so verlaufene abendländische Geschichte und ihre Folgen, wenn ich bei solchen Tagungen lausche.



Literaturangaben


Bauer, Joachim
(2002): Das Gedächtnis des Körpers. (Eichborn, Frankfurt/M. 2002)

Bauer, Joachim
(2008): Warum ich fühle, was Du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneuronen (Heyne, München 2008).

Bowlby, John ( 1986a): Bindung;  (Fischer, Frankfurt/M. 1986, orig. 1969).

Bowlby, John
(1986b): Trennung,  (Fischer, Frankfurt/M. 1986, orig. 1973).

Brisch, Karl-Heinz / Hellbrügge, Theodor
(Hg., 2007): Die Anfänge der Eltern-Kind-Bindung  (Klett-Cotta, Stuttgart 2007)

Chamberlain, David
(1990): Woran Babies sich erinnern. (Kösel, München)

Chamberlain, Sigrid
(1997): Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind. Über zwei NS-Erziehungsbücher (Psychosozial-Verlag, Gießen 1997).

DeMeo, James
(1997): Entstehung und Ausbreitung des Patriarchats. In: DeMeo, J. / Senf, B. (Hg.): Nach Reich (Zweitausendeins, Berlin/Frankfurt/M. 1997).

Devereux. Georges
(1988): Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften. (Suhrkamp, Frankfurt/M. 2. Aufl. 1988 orig. 1973).

Giegerich, Wolfgang
(1988): Die Atombombe als seelische Wirklichkeit. ( Schweizer Spiegel Verlag Zürich 1988).

Giegerich, Wolfgang
(1989): Drachenkampf und Initiation ins Nuklearzeitalter. (Schweizer Spiegel Verlag, Zürich 1989).

Harms, Thomas
(2000): Auf die Welt gekommen. (Leutner Verlag, Berlin 2000)

Hornung, Eric (1973): Der Eine und die Vielen . (Wiss. Buchgesellschaft,  Darmstadt 1973).

Hüther, Gerald
(2002): Die Folgen traumatischer Kindheitserfahrungen für die weitere Hirnentwicklung. In: www.agsp.de/html/a34.html

Hüther, Gerald / Bonney, Helmut
(2004): Neues vom Zappelphilipp. ADHS: verstehen, vorbeugen und behandeln (Walter, Düsseldorf / Zürich, 5. Aufl. 2004).

Köhler, Claudia
(2000): Prä- und perinatale Traumata – Ursachen, Folgen, therapeutischer Ansatz. In:  Harms (2000), S. 129-155.

Langendorf, Uwe
(2009): Spielverderber. Identitätsstörungen bei Verlierern der Globalisierung. In: Ottmüller, U. /Kurth, W / Reiß, H.J. (Hg.): Psychohistorie und Globalisierung. Jahrbuch für Psychohistorische Forschung 9 (Mattes Verlag, Heidelberg 2009), S. 83-92.

Levinas, Emmanuel
(1986): Ethik und Unendliches: Gespräche mit Philippe Nemo. Im Deutschen hrsg. Von Peter Engelmann (Edition Passagen, Passagen-Verlag, Wien 1986).

Lipton, Bruce H. (2007): Intelligente Zellen. (Koha Verlag Burgrain, 3. Aufl. 2007).

Macovich, Marina/de Jong, Theresia (2001): Frühgeborene – Zu klein zum Leben?  Die Methode Marina Marcovich, (Fischer, Frankfurt/M. 2001).

Maul, Stefan (2008): Tor der Götter, in: Antike Welt  4/2008 (Philipp von Zabern, Mainz), S. 21-29.

Neumann, Erich (1978): Die große Mutter, (Walter,. Zürich, 3. Aufl. 1978, orig. 1956).

Neumann, Erich
(1992): Ursprungsgeschichte des Bewusstseins. (Fischer, Frankfurt/M. 1992 orig. 1968).

Odent, Michel (2005): Es ist nicht egal, wie wir geboren werden – Risiko Kaiserschnitt. (Walter Verlag, Düsseldorf/Zürich 2005).

Porges, Steven W.
(2006): Trauma-Newsletter Nr. 3  hrsg. vom Polarity-Zentrum Zürich, Tel. 0041 - 442188080

Presscott , James (1997): Körperlust und die Ursprünge der Gewalt, in: DeMeo, J. / Senf, B. (Hg.): Nach Reich, (Zweitausendeins ,  Berlin / Frankfurt/M. 1997).

Roth, Gerhard (1997): Das Gehirn und seine Wirklichkeit. (Suhrkamp, Frankfurt/M. 1997).

Schönfeldt, Charlotte (2009): Bindung und Beziehung statt Einsamkeit und Selbstentfremdung. In: Ottmüller, U. / Kurth, W. / Reiß, H.J. (Hg.): Psychohistorie und Globalisierung. Jahrbuch für Psychohistorische Forschung 9  (Mattes Verlag, Heidelberg 2009), S. 189-192.

Siegel, Daniel/Hartzell, Mary (2004): Gemeinsam leben, gemeinsam wachsen. (Arbor-Verlag., Freiamt i. Schwarzwald 2004).

Somé, Sobonfu
(1999): Die Gabe des Glücks. Westafrikanische Rituale für ein anderes Miteinander . (Orlanda Frauenverlag, Berlin 1999).

Somé, Sobonfu (2000):  In unserer Mitte. Kinder in der Gemeinschaft. (Orlanda Frauenverlag. Berlin 2000).



zum Seitenanfang

zur Übersicht