AUSGEWÄHLTE EIGENE TEXTE
Frühe Bindungen
Im Verhältnis zu den Säugetieren verlassen wir Menschen etwa 9 Monate zu früh den Körper unserer Mutter (unser Kopf könnte sonst wohl nicht geboren werden). Und wir sind mit unserem unfertigen Gehirn viel instinktunsicherer, ungeschützter, verletzlicher und für jede Art von Reizen und Ängsten offener als viele Tiere nach ihrer Geburt.
Je unfertiger ein Lebewesen ist, umso mehr wird es von seiner Umgebung beeinflusst und ist ihr ausgesetzt.
Deshalb brauchen wir Menschen am Anfang unseres Lebens extrem viel Abschirmung durch unsere nächste Bezugsperson. Im vertrauensvollen Kontakt zu ihr kann uns unsere Umgebung sozusagen nichts anhaben. Wir suchen oft z. B. noch lange den schützenden Körperkontakt, gehören zu den »Traglingen« wie unsere Affenhalbgeschwister. Unser Bedürfnis nach Sicherheit ist riesengross.
Und wir sind schon als Winzlinge selbst bemüht, die Beziehung zu unserer Schutzperson bauen zu helfen. Wir setzen alles daran, von ihr beachtet und verstanden zu werden. Wenn das gelingt – in dem Tempo und mit den Pausen, die wir als so Kleine immer brauchen, und in der Art und Weise, wie es gerade für uns jetzt stimmt –, wenn also so zwischen mir und der anderen Person Resonanz entsteht, fühlen wir uns wohl und können gedeihen.
E s e n t s t e h t B i n d u n g.
Wir hungern geradezu danach, gefühlsmässig berührt und in unserem aktuellen Bedürfnis erkannt und verstanden zu werden. Forscher bezeichnen unser Gehirn als Bindungsorgan.
Bindung bedeutet für den kleinen Menschen Sicherheit, Schutz und damit Überleben. Wenn wir – auch als Erwachsene – uns im Kontakt wohlfühlen, werden verschiedene Hormone, u.a. Glückshormone in unserem Körper ausgeschüttet, was wiederum unser Bedürfnis nach Kontakt verstärkt.
Das gilt schon für das Ungeborene. Was es neben Nahrung und Schlaf für seine Entfaltung am Nötigsten braucht ist eine zugewandte Mama. Denn eine solche kann ihm ein körperliches Empfinden von Willkommensein vermitteln. Anhaltende Ängste, andauernder Stress oder Gedanken an Abtreibung können dagegen in ihm so etwas wie Todesängste erzeugen, weil sie gerade von der Person kommen, von der das Kind Verstehen und Wohlwollen erwartet.
Empfindet das Kind die Verbindung als gefährdet, kann es sich nicht vertrauensvoll »fallen lassen«, nicht angstfrei wachsen. Es muss einen Teil seiner Energie und Nährstoffe dazu verbrauchen, sich selbst so gut wie möglich zu schützen, z. B. auch vor Nikotin und Alkohol. Ungeborene scheinen auch schon Rücksicht nehmen zu können, etwa sich zu verkriechen oder sich ganz still zu verhalten, wenn sie sich – vielleicht – als lästig für die Mutter erleben.
Wenn die werdende Mutter genug körperliche und zwischenmenschliche Kraftquellen zur Verfügung hat, kann sie ihre Probleme als eigene erkennen und dem Kind mitteilen, daß es sich darum nicht zu sorgen braucht. Sie wird ihre Sorgen so nicht auf ihr Baby übertragen. Dieses kann seine Umgebung dann gelassen hinnehmen und wird sie nicht als Bedrohung erleben.
Auch während der Geburt, der ersten ganz grossen und anstrengenden Veränderung im Leben des Kindes, kann die Verbindung zu ihm gehalten –, sein Vertrauen in seine Umwelt erhalten werden, wenn wenigstens ein Mensch im Kreissaal innerlich dafür frei ist und leise oder auch laut mit ihm über seine möglichen Empfindungen spricht. Wenn sich die Gebärende selbst wohlwollend unterstützt und verstanden fühlt, wird sie dieses Gespräch selbst mit ihrem Baby führen können. Das wünschen wir uns. Manchmal aber ist das nicht möglich. Dann kann ein gut vorbereiteter und feinfühliger Vater diesen Kontakt zu seinem Kind übernehmen. Auch die Hebamme wird sich dafür verantwortlich fühlen, wenn sie nicht mehrere Geburten zur gleichen Zeit betreut. Schliesslich ist zunehmend neben den medizinischen GeburtshelferInnen noch eine weitere verständnisvolle Person allein für diese Aufgabe anwesend, eine Doula.
Auch das Neugeborene fühlt sich am Wohlsten, wenn sein Erleben und seine Kontakt- Bedürfnisse wahrgenommen und beantwortet werden. Es scheint alles daran zu setzen, die Aufmerksamkeit seiner Mitmenschen zu erreichen – nun sichtbarer und hörbarer als vor seiner Geburt –, durch Töne, vielleicht Schreien, Augenkontakt, Mimik, Gesten, Bewegungen, also mit seinem »sozialen Nervensystem« (Steven Porges). Denn alle diese Sinne wollen Kontakt.
Später krabbelt ein sicher gebundenes Kind bei Gefahr seiner Schutzperson hinterher, streckt seine Arme nach ihr aus und klammert oder kuschelt sich an ihren Körper.
Wenn es sich unsicher fühlt, hält es Abstand. Wir vermuten, das tut es, um sich vor weiteren Enttäuschungen zu schützen. Es verspannt sich, um seinen Schmerz nicht zu spüren.
Die Bedürfnisse der kleinen Kinder nach Einfühlungsvermögen und angemessenen Reaktionen einer festen Bezugsperson auf sein einmaliges Sosein, d.h. nach Resonanz ist mindestens so gross wie das zu atmen und das zu trinken. Folglich führt der Mangel an gelingender Begegnung unvermeidlich zu starken Verlust- oder Zornesempfindungen, vielleicht aber auch zu Resignation.
Einige Literatur
Bauer, Joachim: Warum ich fühle, was Du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone. Hamburg: Hoffmann und Campe, 7.Aufl. 2005
Brisch, Karl-Heinz/Theodor Hellbrügge, Theodor (Hrsg.): Die Anfänge der
Eltern-Kind-Bindung. Stuttgart: Klett-Cotta 2007
Deyringer, Mechthild: Bindung durch Berührung. Schmetterlingsmassage für Eltern und Babys. Berlin: Leutner-Verlag 2008
Harms, Thomas: Auf die Welt gekommen – die neuen Babytherapien. Berlin: Leutner-Verlag 2000
Mohr-Bartsch, Anne: Kleine Sorgenkinder. Alternative Heilverfahren für Säuglinge und Kleinkinder. München: Kösel 2007
Levine, Peter/Maggy Kline: Verwundete Kinderseelen heilen. Wie Kinder und Jugendliche traumatische Erlebnisse überwinden können. München: Kösel 2005
Porges, Steven: Neurozeption - die drei Regelkreise des Autonomen Nervensystems, in: Trauma Newsletter Nr.3 vom Zentrum für Innere Ökologie, Frühjahr 2005 Somé, Sobonfu E.: In unserer Mitte. Kinder in der Gemeinschaft. Berlin: Orlanda-Verlag 2000
zum Seitenanfang
zur Übersicht