Ruth Priese
Ruth Priese     Körper- und systemisch orientierte Begleitung von kleinen und grossen Menschen

                                                           MITERLEBTE GESCHICHTEN


Anton  »Er schreit und schreit und schreit - und lässt sich nicht hinlegen..«

und seine Mutter kamen zu mir, nachdem sie in einem Babytreff ein entsprechendes Faltblatt erhalten hatten. Anton war 10 Wochen alt. Er »schreit und schreit und schreit – den ganzen Tag und lässt sich nicht hinlegen. Wenn er sich ins Schreien hineinsteigert, läuft er blau an. So versuche ich, das immer abzufangen....Ich bin manchmal dabei, emotional zusammenzubrechen und habe Tage, wo ich nur heule – ich weiss, dass Anton das mitkriegt...beginne, mich zu verschliessen«, berichtete die Mutter bei unserem telefonischen Kennenlernen.
Die intelligente, schmale Physiotherapeutin ist alleinerziehend, habe sich »schon immer« ein Kind gewünscht. Vier Jahre vor Antons Geburt habe sie ihr erstes Kind in der 16. Schwangerschaftswoche verloren, da sei sie im Krankenhaus gewesen – und »es war furchtbar« -  ( wir lassen der Trauer darüber Raum - ). Auch dem Vater des Kindes sei es nach diesem Verlust nicht gut gegangen. Er sei nach ein paar Wochen ausgezogen. 
3 Jahre später lernte sie Antons Vater kennen. Nach nur sechs Wochen habe sie festgestellt, dass sie schwanger war ... es war nicht geplant – »ein Unfall«. Sie habe sich relativ schnell von Antons Papa getrennt, »weil er mir keine Hilfe war, ... ehe es wieder verloren geht. – Wie Männer so sind, die laufen vor Problemen weg«. Er habe die Vaterschaft anerkannt, aber sie habe allein das Sorgerecht. »Er hätte es gern gehabt – , aber jedes Mal, wenn es mir schlecht ging, war er weg. Dann fiel ich in Depressionen – .... Die Entscheidung bereue ich nicht.... Er hat das Kind drei Mal gesehen.....  Ich bin zur Zeit froh, wenn ich nichts von ihm höre«.
Antons Mutter erlebt die eigene Mutter und ihren Stiefvater mit Garten als Unterstützung und »Rettungsanker«. Mit ihrem einzigen, 4 Jahre älteren Bruder, dem »stolzen Onkel«, habe sie ein »sehr gutes Verhältnis« . An ihren leiblicher Vater hat sie schlimme Erinnerungen: »wir mussten Wache stehen nachts, falls Papa angetrunken unserer Mutter ´was antut«. Ihr Bruder habe damals seine Wut an ihr ausgelassen und ihre Mutter sei nicht gegen ihn angekommen. Nach der Scheidung ihrer Eltern habe sie als Schulkind ihren Vater in seiner kleinen Wohnung 7 Jahre lang gepflegt, während der weiterhin trank. Ihr Vater habe ihr jedoch körperlich nichts angetan. Sie sei seit seiner Beerdigung nicht wieder an seinem Grab gewesen.

Anton ist ein grosses, kräftiges Kind, das – vollgestillt – mit 10 Wochen 6 kg wog. Die ersten drei Monate der Schwangerschaft seien »schwierig« gewesen. Die ständige Angst der Mutter, das Kind wieder zu verlieren, habe sie begleitet. Sie sei »ganz auf das Kind fixiert gewesen«. Wegen vorzeitiger Wehen habe sie im Krankenhaus wehenhemmende Mittel bekommen. Ambulant sei »ganz häufig ein CTG geschrieben worden«. Sie selbst habe »ganz viel Reiki für ihn gemacht«.
Anton wurde vaginal innerhalb weniger Stunden »ohne Komplikationen« geboren. 
Er wurde einem für Kinder spezialisierten Orthopäden vorgestellt, der nach dem letzten Besuch »keine Blockierung mehr« festgestellt hatte. Die Kinderärztin hatte Physiotherapie nach Bobath verordnet. Ferner wurde Anton cranio-sakral behandelt.

Zu unserer ersten Begegnung kommen die Mutter und die noch berufstätige Oma (mü.) mit Anton. Beide Frauen sind erstaunt, dass er beim Weinen durch mein Sprechen mit ihm mehrfach seine Augen öffnet und dass er ruhiger trinkt als sonst. Antons heftiges, teils wütendes Weinen wirkt zunächst auf mich über mehrere Sitzungen hinweg wie eine eingefahrene Gewohnheit, bei der er sehr schnell mit geschlossenen Augen in Dissoziationen hineingerät. So versuche ich zunächst, ihn mit verschiedenen Körperberührungen und mit Worten in einen Augenkontakt – , d.h. für mich aus der Erinnerung heraus und in sein Erleben von Gegenwart hineinzuholen. Als die Mutter von ihrem eigenen Vater erzählt und er dabei besonders heftig aufweint, versichere ich ihm (nachdem ich der Mutter dieses »Differenzieren« erklärt habe), dass dies Mamas Problem ist, sie sich selbst darum kümmert und er sich darum nicht zu sorgen braucht. Der Ton von Antons Weinen drückt für mich u.a. so etwas aus wie: das ist mir alles zu viel.
In der dritten von insgesamt 9 Sitzungen berichtet die Mutter, dass das Weinen »viel besser« geworden sei. Sie könne Anton jetzt »bis zu einer Stunde hinlegen und beschäftigen, ohne dass er weint. Auch weint er nicht mehr so heftig«. Es sei jetzt mehr ein »meckern. Das ist viel leichter zu ertragen. Auch ist er viel mehr in der Gegenwart anwesend«. Ich empfinde seinen Körper als weicher geworden, – ihn auch beim Trinken wieder ruhiger. Sie kann sich die Füsse halten lassen und freut sich schon auf Massagen für sich selbst, wenn sie das Kind versorgt wissen wird. In der vierten Sitzung berichtet sie, dass Anton einen ganzen Tag lang friedlich gewesen sei »als ob er verstanden hat, nachdem ich meiner Mutter offen am Telefon das Ende meiner Kräfte und meine Ängste mitgeteilt  habe, dass ich es nicht schaffe, meine Selbstbeherrschung und meinen Stolz nicht mehr aufrecht erhalten habe, es allein schaffen zu müssen. Meine Mutter hat verständnisvoll zugehört... ich hätte früher nicht gedacht, dass wir einmal ein so gutes Verhältnis miteinander haben würden... Anton öffnet sich jetzt viel mehr für Reiki... bei Tarot-Karten ziehe ich für Anton immer wieder die Karte für Angst... das ist meine Angst in der Schwangerschaft«.  Immer noch überstrecke sich Anton sehr stark nach hinten, sodass manchmal nur seine Hacken und sein Kopf die Matte berührten. Ich leite die Mutter an, die Bewegung des Kindes sanft zu begleiten. Gegenüber allen meinen – und der Kinderärztin Vorschlägen zur Entlastung durch eine Mutter-Kind-Kur, durch Vermittlung eines Gespräches mit dem Vater des Kindes oder die Vermittlung eines »Grosselterndienstes« hat sie zunächst viele Argumente.
In der 6. Sitzung berichtet sie schliesslich, dass sie sich für eine Kur entschieden und zum Zufüttern habe überreden lassen. Wir erleben, wie sich Anton kräftig mit seinen Füssen abstösst, was er zuhause oft tue. Ich lade die Mutter ein, dieses Schieben in Rückenlage auf der Matte mit ihren Händen an seinem Kopf und mit bezeugenden Worten zu begleiten. Anton kommt in sehr heftiges Weinen, was die Mutter bei diesem ersten Mal als »grenzwertig« erlebt.
Weil sie die heftigen Geburtsbewegungen des Kindes und den Ausdruck seines Schmerzes dabei offenbar schwer erträgt – , schreibe ich ihr nach dieser Sitzung einen Brief, in welchem ich ihr das Bedürfnis vieler Kinder nach einem körperlichen Nacharbeiten der eigenen Geburt zu erläutern versuche und ihr das Buch von Etienne und Neeto Peirsmann »Mit sanfter Berührung – Craniosakral-Behandlung für Babies und Kleinkinder« empfehle. In der 7. Sitzung berichtet sie von ihrer sehr tiefen Enttäuschung – ihren Tränen – darüber, dass die Kur in Wohnnähe und so bald wie möglich, wo sie es sich gewünscht hatte, abgelehnt worden sei – .  Anton schiebt sich wieder auf seinem Rücken und kommt mit geschlossenen Augen in heftiges Weinen, dreht sich dann auf den Bauch. Angesichts der Erschöpfung der Mutter und entgegen meiner Gewohnheit frage ich sie, ob ich Anton auf meinen Arm nehmen dürfe. Nachdem sie deutlich schweren Herzens bejaht, öffnet er durch das Licht und die Luft am offenen Fenster sowie durch mein Sprechen zu ihm seine Augen und beruhigt sich. Wir suchen danach nur noch gemeinsam nach Kraftquellen für die Mutter und finden solche erneut in bestimmten Körperwahrnehmungen und Selbstberührung, in ihrem Basteln und Tagebuch-schreiben.. In den nächsten Wochen suche auch ich – erfolgreich – nach einer geeigneten Kureinrichtung für die beiden in Wohnnähe, die umgehend einen Platz frei hat. Wir treffen uns davor das achte Mal: Anton kommt wieder in heftiges Schieben und Weinen, seinen Kopf in meine – dann in der Mutter Hände grabend und dieses Mal schnell im Augenkontakt. Nun unterstützt sie ihn überzeugt. Wir erleben ihn danach völlig entspannt, »wie befreit«, sagt sie. Sie war inzwischen von dem Buch der Peirsmans »sehr beeindruckt« und hatte das Kapitel über die Geburt darin »immer wieder gelesen«.





3 Monate nach der Kur, bei unserem neunten Treffen in Antons 10. Monat, erfahre ich, dass sie sich nun »psychisch stabil« fühle und durch die einfühlsame Mitarbeiterin des Jugendamtes einen Kitaplatz für 8 Stunden bekommen habe, obwohl sie zur Zeit keine Arbeit finde. Anton wirkt auf mich offen, strahlend, krabbelt, zieht sich hoch, sucht häufig der Mutter – und meine Körpernähe. »Zu Hause ist er ständig an mir, wühlt mit seinem Kopf im Schlaf zu mir hin... schimpft sehr viel«. Ihm ernst gemeinte Grenzen zu setzen, scheint für die Mutter eine nicht leicht zu bewältigende Herausforderung.
Sie hatte sich das Buch von David Chamberlain »Woran Babies sich erinnern« zu ihrem Geburtstag von ihrem Bruder schenken lassen wollen. Aber es war auf dem Büchermarkt nicht zu bekommen. Nachdem sie es, Anton war inzwischen 20 Monate alt, endlich bei mir ausleihen konnte und es »in einem Zug« gelesen hatte, meinte sie: »das hätte mir jemand in der Schwangerschaft zu lesen geben sollen«.
Die Fotos, welche sie mir dankenswerterweise zur Veröffentlichung gab, zeigen Anton mit 10 Wochen auf dem Arm seiner Oma und unmittelbar nach der Kur.

Und hiermit danke ich Antons Eltern sehr herzlich, diesen Bericht hier veröffentlichen zu dürfen.    R.P.



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