Ruth Priese
Ruth Priese     Körper- und systemisch orientierte Begleitung von kleinen und grossen Menschen

                                                           MITERLEBTE GESCHICHTEN


Sonja  »Papa, wo bist Du?«

Sonja war nicht „geplant“, aber von ihrer Mutter gewünscht. Ihr Vater habe „sich eine gesucht, die schwanger wird, damit er nicht eingebuchtet wird“. Die Mutter fühlte sich vom Vater „verarscht“ und abgewertet. Sonjas Eltern waren 3 Monate lang zusammen, d.h. ihr Vater kam ein Mal in der Woche abends bei der Mutter vorbei „das war ihm schon zu viel“. Er habe ihr kaum geholfen, auch nicht beim Umzug. „Einen Monat nach der Trennung wollte ich, dass wir miteinander reden. Da ist er für 15 Minuten gekommen und wollte dann wieder zu seinen Kumpels“.
Sonja wurde 4 Wochen vor dem errechneten Termin sehr schnell geboren. „Ich dachte immer, eigentlich darf sie noch nicht kommen“. ----   „Ich war hilflos, nervös und habe versucht, sie zu tragen“. Vier Tage und Nächte lang war Sonja im Brutkasten, unter einer Wärmelampe. Sie wurde mit der Flasche - mit der abgepumpten Milch ihrer Mutter ernährt. Sie war „noch sehr schwach --  Ich wollte stillen – und etwa nach drei Wochen hat es auch geklappt“.
Während unserer dritten Sitzung konnte Sonja bereits ohne Still-hütchen trinken. Ihre Mutter gab den Vater in der Klinik nicht an. “Ich wollte mir Bedenkzeit geben und wollte nicht, dass er kommt“.
Sonjas Mutter ist die ältere von zwei Schwestern und sei selbst Frühchen und vier Wochen im Brutkasten gewesen, ohne dass ihre Mutter sie besucht habe. Sie und ihre 3 ½ Jahre jüngere Schwester verloren beide Eltern bei einem Autounfall ohne Schuld der Eltern, als Sonjas Mutter 12 Jahre alt war. Der anwesende Onkel habe ihr gleich nach dem Unfall jedes Wort verboten und „mir eine geknallt. Ich versuch´ immer, hart zu sein. Wenn ich zuhause bin, könnt´ ich nur heulen. Ich denke, ich hab´ selber ´nen Schaden. Ich bin nach dem Unfall den ganzen Tag gekrümmt gelaufen, keiner hat mich untersucht. Ich musste am 2. Tag danach wieder in die Schule. Die ganze Schule wusste es schon. Die standen alle und haben auf mich gewartet. Das tat mir gut“.
Mir schien im Gespräch mit Sonjas Mutter, dass beide Schwestern nach dem frühen und plötzlichen Tod ihrer beiden Eltern noch keinerlei emotionalen Raum für ihre Trauer gehabt hatten. Sie kamen in den Haushalt der Großmutter mütterlicherseits und lebten dort zusammen mit besagtem, unverheirateten Onkel: „Geheult hab´ ich nie. Ich versuch´ immer, nicht darüber nachzudenken. Mein Onkel wollte immer nicht, dass ich mich mit ihm unterhalte. Meine Oma hat mir verboten, zu der anderen und zu meinen beiden Halbschwestern dort Kontakt zu haben. Ich durfte 4 Jahre lang nachmittags und abends nicht ´raus, es könnte mich ja jemand schnappen. Mein einziger Halt war die Frau eines anderen Onkels. Zu meiner kleinen Schwester versuchte ich, nett zu sein, hatte aber immer das Gefühl, sie wird wie eine Prinzessin behandelt, ich wie eine Schlampe“. Sonjas Mutter erzählt mir ihre traurige Geschichte über weite Strecken hinweg, ohne dabei eine Gefühlsregung zu zeigen. Ihre roten Flecken aber zeigen die innere Erregung.
Mutter und Kind kamen etwa 6 Wochen nach Sonjas Geburt  nach telefonischer Anmeldung durch die Kinderärztin der Geburtsklinik zu mir, weil die Mutter „total angespannt wirkt, vermutlich Probleme mit sich selbst hat, wenig Empathie zu spüren ist“. Das Kind sei ganz gesund, habe auch gut zugenommen.
Bei unserem ersten Treffen scheint die Mutter sehr beschäftigt mit einer unklaren Beziehung zu einem Arbeitskollegen. Sie habe Gefühle für ihn, er nicht für sie. Sie war sichtlich froh, das ich mich – entgegen meiner Gewohnheit – ein Weilchen mit Sonja beschäftigte und sie sich auf ihr Erzählen konzentrieren konnte. Während die Mutter ihre Geschichte erzählt, wird Sonja mehrmals kurz unruhig, lässt sich aber zunächst durch ganz leichte Berührungen beruhigen und durch Worte, mit denen ich ihr versuche zu sagen, dass Schwangerschaft, Geburt und die erste große Trennung von ihrer Mama nun  vorbei seien -- und dass es bestimmt für ein Kind schwer sei, wenn sich der Papa nicht kümmert. Später kommt Sonja in dieser und in etwa sieben weiteren Sitzungen in sehr heftiges Weinen, bei dem sie sich meistens mit den Füßchen vom Körper ihrer Mutter abstößt und an diesem robbt. Mein Sprechen mit ihr über ihre Geschichte und über ihren Vater tut ihr stets sichtlich gut. Von Mal zu Mal wird die Bereitschaft der Mutter größer, ihrem Kind kontinuierlichen Körperkontakt zu gewähren. Ja, diese körperliche Nähe - auch in den Nächten – schien ihr auch selbst zunehmend Freude zu machen. Und: „Reden hilft immer“, ist einer ihrer Sätze nach unseren ersten Begegnungen. Und sie lernt schnell, sich nicht nur mit den problematischen Dingen ihres Lebens zu beschäftigen, sondern das Positive hervorzuholen, sich aufzuschreiben, den Zettel in ihrer Küche anzuhängen und in Gegenwart des Kindes bewusst sowie beim Stillen ihre Gedanken in erfreuliche Richtungen zu lenken. Eine der ersten positiven Erinnerungen ist die an ihren Vater. (Sie träume alle vier Wochen einmal von ihm).  Sonja reagiert auch beim Stillen deutlich unruhig, wenn die Mutter von ihren Problemen spricht und jeweils entspannt, wenn sie aussetzt, an diese zu denken.
So ist es jeweils eine Gradwanderung, diese Konzentration auf  Kraft gebende Gedanken und Bilder zu behalten und doch der immer wieder einfließenden und so lange verdrängten Trauer Raum zu lassen („Die Trauer ist im ganzen Körper“).
Und immer wieder einmal mache ich deutlich, dass das Kind später in irgendeiner Form Kontakt zu seinem Vater braucht, um gut zu gedeihen. Gleichzeitig dürfen eine Praktikantin, welche bei unseren Sitzungen meistens dabei ist, und ich beglückt erleben, dass Sonjas Mutter nach und nach immer aufmerksamer und zärtlicher mit dem Kind umgeht., mehr Bindung zwischen beiden zu spüren ist. Sie liest uns eine SMS an einen Freund vor, die lautet: „Seit zwei Monaten geht es mir besser, auch mit Sonja. Ich kann jetzt damit leben, dass zwischen uns „nur“ Freundschaft ist.“  (Das war die Zeit, seit der wir  etwa wöchentlich Kontakt hatten).
Auf eine leichte  Schiefstellung des Köpfchens von Sonja reagiere ich in mehreren Sitzungen mit - Sonjas Befinden angepassten, leichten craniosakralen Berührungen. Aus einem sehr heftigen Weinen von ihr mit fest geschlossenen Augen in unserer 8.Sitzung hole ich sie durch Ablenken heraus, weil Sonja darin deutlich dissoziiert, d.h. von ihrem Wahrnehmenkönnen und Empfinden abgespalten ist. In unserer 10.Sitzung sind die Schlafprobleme der Mutter und Möglichkeiten, sie zu beeinflussen Thema. Sie kann das inzwischen erlernte Reagieren auf das Kind erstaunlich schnell auf  ihr Verhältnis zu sich selbst, den eigenen Körper und die eigene Seele übersetzen. In der 12. Sitzung sagt sie: „Jetzt habe ich gar keine Zeit für einen Partner, sonst würde Sonja zu kurz kommen“.  Mit der Praktikantin zusammen übt sie im Rollenspiel erfolgreich, nachts nicht mehr bei jeder kleinen Unruhe von Sonja die Brust anzubieten, vielmehr auch einmal dem Kind das eigene Bedürfnis nach Ruhe zu signalisieren.
Heftige Geburtsbewegungen des Kindes, die wir begleiten, zeigen sich auch noch in den Sitzungen 13-18. Danach bekommt Sonja eine schwere Magen-Darm-Erkrankung, bei welcher die Mutter mit Hilfe des Kinderarztes sie geduldig und liebevoll pflegt. Danach wirkt Sonja auf mich wesentlich ruhiger als bis dahin
„Glauben Sie, dass es böse Menschen gibt?“ >
Nein. > „na, wegen ihrem Vater“.
Sonjas Mutter spricht auch über ihren Kontakt zu ihrer jüngeren Schwester, versucht, mit ihr ins Gespräch zu kommen und auch auf deren Gefühle einzugehen. Nach der 20.Sitzung, sieben Monate nach unserer ersten Begegnung notiert sie auf einem kleinen Rückmeldungszettel unserer Einrichtung u.a. „...sie hat mir gezeigt, viele Dinge aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Vor allem konnte ich vieles verarbeiten“.
Sonja ist sehr weit in ihrer körperlichen Entwicklung. Mir erscheint es wie der Ausdruck einer sehr frühen Übernahme von Verantwortung für die Mutter, was sich in ihrem ein wenig gekrümmten Rücken ausdrückt. Die Mutter versucht, sie ohne Windeln zu halten, d.h. sie wird oft abgehalten. In ihrem neunten Monat stillt sie sich selbst dadurch ab, dass sie die Brust ihrer Mutter stark zerbeißt. Das „Abstillen“ ist für die Mutter sichtlich ein schwer anzunehmendes Geschehen, ein ungewollt früher Abschied von dieser körperlichen Nähe zu ihrer Tochter - , aber offenbar auch ein Auslöser dafür, wieder ein wenig mehr der Erfüllung anderer eigener Bedürfnisse Aufmerksamkeit zu geben: Sie kann z. B. spontan auftretendes Gähnen in meiner Gegenwart zulassen, welches sie früher stets unterdrückt habe. Wir haben Raum, die Kleine in der Erwachsenen wahrzunehmen und zu umsorgen. Sonja schläft nun nachts durch.
Inzwischen haben Mutter und Kind neben ihrer Beziehung zu einer jungen Familie mit 6 Kindern, in deren Nähe sie umziehen, auch eine feste Freundschaft zu einer anderen, mir vertrauten Mutter gefunden.
Nach der 22. Sitzung empfinde ich den Zustand der beiden als so gefestigt, dass ich eine vorläufige Beendigung unserer Beziehung in dieser Zusammensetzung vorschlage.
Nach einem halben Jahr kommen beide erneut zwei Mal und ich darf hören, dass sich die Mutter beim Vater gemeldet hat und sich zwischen ihm, Sonja und der neuen Partnerin ein lockeres Besuchsverhältnis gebildet hat. Der Vater habe sich positiv verändert---Vielleicht empfindet Sonja dabei: „Papa -, endlich bist auch Du für mich da!“ 
Sonja und ihre Mutter kommen nach 2 Jahren erneut und nun endlich ist - bei einem rundum gesund wirkenden Kind, welches sich probelmlos in einer Kita eingewöhnt hat, - die Mutter dran, daß ich mich ihr allein zuwende.

Ich danke Sonja und ihrer Mutter herzlich dafür, diesen Bericht hier veröffentlichen zu dürfen.



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